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Dienstag, 26. Juli 2011

Der Nachmacher-Effekt

Von Ferdinand Binkofski und Giovanni Buccino

Mit Hilfe der Spiegelneurone simuliert unser Gehirn, was
andere tun. Genau das könnte Schlaganfallpatienten nutzen.

Faszinierend! Mehr fiel Mister Spock eigentlich nie ein, wann immer der berühmte Halbvulkanier
aus der Sciencefiction-Serie »Star Trek« das merkwürdige Gebaren eines Erdlings sah. Einfach faszinierend, was so viel hieß wie seltsam, fremdartig, unverständlich. Denn Spock, der kühle Rationalist, wurde vom menschlichen Tun oft einfach überrumpelt.
Offenbar mangelte es ihm – im Gegensatz zu uns Menschen – an der Fähigkeit, die Absichten anderer blitzschnell zu erkennen. Wie unser Gehirn diese Leistung vollbringt, war lange Zeit unbekannt. Bis vor wenigen Jahren untersuchten Neurowissenschaftler fast ausschließlich solche Prozesse, die das Individuum allein betrafen – nicht jedoch, wie wir unsere Erfahrungen, Gedanken und Gefühle intuitiv miteinander teilen. Mit der Entdeckung der Spiegelneurone hat sich das schlagartig geändert. Diese äußerlich völlig unscheinbaren Nervenzellen verblüff en durch ihre doppelte Funktion: Sie werden bei zielgerichteten Aktionen aktiv, egal ob wir diese selbst ausführen oder nur an anderen beobachten. Entsprechend sollten Spiegelneurone im menschlichen Gehirn vor allem in jenen Regionen verbreitet sein, die Handlungen planen und initiieren. Dieses System umfasst neben dem primären motorischen Cortex, der Bewegungsimpulse an die Muskeln schickt, vor allem das prämotorische sowie das supplementär-motorische Areal. Sie haben die Aufgabe, komplexere Bewegungsabläufe zu planen und die notwendigen Einzelschritte zu koordinieren. Schon 1995 hatten Forscher um Giacomo Rizzolatti von der Universitätin Parma mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) entdeckt, dass bloßes Betrachten der Handlungen anderer auch motorische Areale im Gehirn des Zuschauers aktiviert. Unsere Wahrnehmung setzt also offenbar eine Art innere Simulation in Gang, ein inneres Nachvollziehen fremden Tuns.
2001 ging ein Team unter Leitung von Giovanni Buccino, ebenfalls in Parma, diesen Hinweisen nach. Die Forscher bestimmten die Hirnaktivität von Probanden, während diese Videosequenzen von Mund-, Hand- oder Fußbewegungen sahen. Tatsächlich schlug je nachdem, welcher Körperteil auf dem Bildschirm in Aktion trat, der motorische Cortex der Beobachter an einer anderen Stelle besonders stark an – eben in der für das jeweilige Köperteil zuständigen Region. Die Erregung blieb zwar unterschwellig; die Probanden bewegten sich also nicht. Dennoch scheint das Gehirn das Sehen fremder Bewegungen mit dem Planen eigener zu verknüpfen.
Wie kommt dieser Transfer genau zu Stande? Lässt er sich vielleicht sogar zur
Behandlung bestimmter neurologischer Störungen nutzen? Dies wäre zum Beispiel bei Patienten denkbar, die infolge eines Schlaganfalls Probleme mit der Motorik haben. Auf Grund einer Hirnschädigung können bei ihnen einzelne Gliedmaßen gelähmt sein oder es gelingt den Betroffenen nicht mehr, bestimmte Bewegungsabläufe zu koordinieren.
Solche Ausfälle lassen sich im Lauf der Rehabilitation zwar oft zu einem gewissen Grad beheben – benachbarte Hirnareale übernehmen dann nach und nach die Funktion des zerstörten Nervengewebes. Allerdings müssen die Patienten dafür sehr lange und intensiv trainieren. Hilft es ihnen vielleicht, wenn sie die neu zu erlernenden Bewegungen zuvor beobachten können? Gut möglich, dass die Koordination leichter fällt, wenn man die daran beteiligten
Spiegelneurone in einer Art Trockenübung anregt.
Dieser Idee folgend entwickelten wir am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck ein Rehabilitationsprogramm für Patienten, deren motorische Rindenareale durch eine Hirnblutung geschädigt worden waren. Die Probanden sahen dabei zunächst die sechsminütige Filmaufnahme einer Folge von Bewegungen – zum Beispiel: Arm ausstrecken, Hand öffnen, Greifen nach einem Apfel und diesen zum Mund führen, um davon abzubeißen (siehe Bildersequenz
oben). Gleich darauf versuchte der Patient das Gesehene selbst aktiv zu imitieren, um die Repräsentation des Ablaufs im Gehirn zu festigen. Mit Erfolg: Die motorischen Fähigkeiten der Studienteilnehmer verbesserten sich im Verlauf des 40-tägigen Trainings deutlich schneller als in der Vergleichsgruppe, die keine Videotherapie erhielt. In einer weiteren, kürzlich durchgeführten Studie mit 22 Schlaganfall-Patienten, die Schwierigkeiten mit Arm- und Handbewegungen hatten, konnten wir dieses Ergebnis bestätigen: Ein entsprechendes Bewegungstraining schlug rascher an, wenn die Betroffenen vor jeder Übungsstunde jeweils kurze Filme betrachteten, in denen alltägliche Handgriff e gezeigt wurden. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie konnten wir zudem zeigen, dass parallel zu dieser motorischen Verbesserung – etwa beim Greifen nach einem Objekt – auch die zuständigen Cortexareale vermehrt arbeiteten.
Jene Hirnregionen, die Bewegungspläne schmieden, wurden offenbar gestärkt; die innere Simulation erleichtert es somit tatsächlich, Bewegungen auch selbst wieder auszuführen. Wie frühere Studien bereits gezeigt hatten, reagieren Spiegelneurone auf eine große Bandbreite unterschiedlicher Bewegungen. Einander überlappende Netzwerke sprechen auf unterschiedliche Aktionen an – ob wir nun nach einem Gegenstand greifen, in einen Apfel beißen oder gegen einen Fußball treten. Dabei ist es nicht einmal zwingend notwendig, dass wir dies von einem Vertreter unserer eigenen Spezies vorgeführt bekommen: Die Arbeitsgruppe von Giovanni Buccino zeigte Probanden verschiedene Videoaufnahmen von Mundbewegungen eines Menschen, eines Affen beziehungsweise eines Hundes. Die Bewegungen waren mal auf ein Objekt gerichtet – sprich, etwas wurde verspeist – oder aber sie hatten rein kommunikativen Charakter. Der Mensch bewegte in diesen Sequenzen den Mund wie beim Sprechen, der Affe schürzte die Lippen und der Hund bellte. Interessanterweise aktivierten Kaubewegungen von Menschen wie von Tieren gleichermaßen das Spiegelneuronensystem.
Beim kommunikativen Lippenspiel dagegen trat die neuronale Resonanz nur dann auf, wenn der Vorführer ein Artgenosse war. Spiegelneurone reagieren also möglicherweise nur auf solche Aktionen, die zum eigenen motorischen Repertoire gehören. Hundebellen zählt nicht dazu – entsprechend findet keine innere Simulation statt.
Unter Umständen hängt die Spiegelzellaktivität also auch davon ab, wie vertraut uns das Gesehene ist. Bei unserem Videotraining übten die Patienten daher ausschließlich solche Bewegungen, die sie früher beherrscht hatten. Ganz unbekannte Koordinationen zu meistern, etwa um eine neue Sportart zu erlernen, müssen sehr viel bewusster kontrolliert werden: Wer noch nie einen Aufschlag im Tennis serviert hat, bekommt dies kaum durch reines Beobachten und spontanes Imitieren hin. Noch etwas ist für die klinische Anwendung möglicherweise bedeutsam: Ein und dieselbe Bewegung kann in verschiedenen Zusammenhängen auftauchen und unterschiedlichen Zielen dienen.
Wenn jemand am Frühstückstisch nach dem Kaffeebecher greift, will er vielleicht einen Schluck daraus nehmen – oder aber die Tasse abräumen. Müssen sich Probanden bewusst auf eine bestimmte Handlungsabsicht konzentrieren, um die eigenen prämotorischen Zentren zu aktivieren? Marco Iacoboni von der University of California in Los Angeles ging dieser Frage in einem Experiment nach.

Handeln im Kontext
Auch seine Testpersonen betrachteten kurze Filme, in denen die gleiche Bewegung jeweils ganz verschiedenen Zielen diente: Jemand griff mal nach einer Tasse, um daraus zu trinken – mal, um sie abzuspülen. Den Probanden wurde die Greifbewegung aber auch losgelöst vom Kontext – dem gedeckten Küchentisch – präsentiert, sowie auch nur das Ensemble aus Teller, Besteck und Tasse allein, also ohne dass sich irgendetwas bewegte.

Ergebnis: Weder die motorische Aktion noch die Umgebung allein aktivierten die Spiegelneurone so stark wie die Kombination aus beiden – denn nur diese lässt den Rückschluss darauf zu, was der Handelnde im Schilde führt. Entsprechend mag auch der Kontext der beobachteten Bewegungsabfolge eine Rolle spielen. »Blinder Aktionismus« ohne erkennbares Ziel könnte beim (Wieder-)Erlernen von Bewegungen weniger wirksam sein. Ob dies tatsächlich so ist, müssen weitere Studien jedoch erst noch belegen. So viel steht aber heute schon fest:
Die innere Simulation mittels Spiegelzellen lässt uns nicht nur die Absichten anderer intuitiv erschließen. Sie ermöglicht es auch Patienten nach einem Schlaganfall, verloren geglaubte Bewegungen schneller wieder zu meistern. 








Ferdinand Binkofski ist Neurologe und Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein, Campus Lübeck.
Sein Fachkollege Giovanni Buccino forscht an der Universität Parma.

Der vollständige Artikel ist erschienen in
» Gehirn&Geist, Oktober 2006

Literaturtipps

Binkofski, F., Buccino, G.: The Role of Ventral Premotor Cortex in Action Execution
and Action Understanding. In: Journal of Physiology 99(4–6), 2006, S. 396 – 405.

Buccino, G. et al.: Neural Circuits Involved in the Recognition of Actions Performed by Nonconspecifi cs: an fMRI Study. In: Journal of Cognitive Neuroscience 16(1),
2004, S. 114 – 126.

Ertelt, D. et al.: Movement Observation has a Positive Impact on Rehabilitation of Motor
Deficits after Stroke. In: Neuroimage, 2006 

Iacobini, M. et al.: Grasping the Intentions of Others with One’s Own Mirror Neuron System. In: Public Library of Science Biology 3(3), 2005, S. 529 – 535

LG Katharina K. 

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